Mit diesen Worten verlieh vor wenigen Tagen ein guter Freund von mir – nicht aus dem zahn/ärztlichen Bereich – seiner Frustration über die nun schon lange bestehenden massiven Einschränkungen und nur langsam einsetzenden Lockerungen der Maßnahmen lautstark Ausdruck. Es sei „das alles“ total übertrieben, er kenne überhaupt niemand, außer einem Kollegen, der im März noch in Ischgl in der Disco war, der überhaupt an COVID-19 erkrankt sei. Es hockten doch ohnedies alle nur daheim. Und meine Zunft – damit meinte er die ärztlichen Expert*nnen – seien Schuld an der Panik. An der Grippe verstürben doch auch in Österreich jährlich ca. 1.500 Menschen und keinen jucke das.
Ich fühlte mich bei meiner Ehre als Medizinerin gepackt und probiere hiermit die Überlegungen, die auch mich in den letzten Wochen beschäftigten, zu Papier zu bringen. Ich bewundere dabei all die Expert*innen, die bereits jetzt mit größter Überzeugung große Weisheiten von sich geben, als wäre es die x-te Pandemie, die sie erleben.
Das bisherige Wissen findet sich – laufend upgedatet – gut zusammengefasst auf den offiziellen Websites von AGES, RKI, WHO oder CDC. Aber es zeigt sich dabei schon ganz deutlich, dass von Land zu Land unterschiedliche Bevölkerungsstrukturen, allgemeine Gesundheitsdeterminanten, Zugang zu Ressourcen und Regierungsformen, die erhobenen Daten offenbar ganz stark beeinflussen. Die Definition und Erfassung der Erkrankung, die Anzahl der durchgeführten Tests (nur bei SymptomträgerInnen?), deren Art (Antigen oder Antikörper?) bestimmen gleich mal massiv die statistischen Daten.
Ergebnisse sind daher nicht „einfach so“ übertragbar oder zu verallgemeinern. Vieles ist zudem Resultat rein mathematischer Modellierungen, die jedoch primär mit Annahmen „gefüttert“ werden müssen. Dabei können aber bereits kleine Veränderungen der eingegebenen Parameter zu extrem unterschiedlichen Szenarien mit einem gewaltigen Potential für Unter- oder Überschätzung der Gefahr führen.
Ich bin mit dem Wissenschaftsbetrieb seit vielen Jahren recht vertraut, aber ich habe es noch nie erlebt, dass derart viele der zitierten Studien – obwohl bereits in den Medien verfügbar und als Tatsache millionenfach „verkauft“ – noch überhaupt nicht den ansonsten immer geforderten peer-review Prozess durchlaufen haben! Ethikkommissionen dürften zudem in vielen Ländern auf ein „rasches Durchwinken“ der Anträge umgestellt haben und Verlage auf rasche Veröffentlichung. Die abschließende Bewertung wird offenbar den Beratergremien der Regierungen bzw. den Medien überlassen, die sie zur Grundlage von Entscheidungen machen.
Was bedeutet das? Viele Aussagen, die wir lesen oder hören, sind aufgrund der noch immer ungenügenden Datenlage lediglich Momentaufnahmen und die Stufe der Evidenz sehr niedrig.
Normalerweise werden Ergebnisse aus randomisierten prospektiven kontrollierten Studien mit einer ausreichend großen Zahl von ProbandInnen gefordert (Stufe I); wir haben es derzeit größtenteils mit Stufe III (Vergleichsstudien, Korrelationsstudien, Fall-Kontroll-Studien) oder Stufe IV (Meinungen/Überzeugungen von angesehenen Autoritäten/Expertenkommissionen; beschreibende Studien) zu tun!
Was wissen wir also?
Wir konnten glücklicherweise erleben, dass die Horrorszenarien wie sie aus Norditalien oder Spanien bekannt wurden, in Österreich nicht Realität wurden. Dies wurde jedoch teuer erkauft und die Sehnsucht nach Normalisierung des Lebens ist in allen Bereichen verständlicherweise groß. Aber die derzeitige (vorläufige?) Lockerung der Maßnahmen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Pandemie noch nicht vorbei ist.
Es gilt also weiterhin, wachsam zu sein und die Hygienemaßnahmen aufrecht zu erhalten bzw. zu verschärfen. Denn so viel ist klar: im Gegensatz zur Influenza ist die Inkubationszeit mit bis zu 14 Tagen deutlich länger und somit auch die Chance größer, dass asymptomatische oder präsymptomatische PatientInnen COVID-19 übertragen können. Bei einem Großteil verläuft die Erkrankung zudem mit wenig Beschwerden (z.B. Veränderung des Geruchs-/Geschmackssinns), es fehlt das für Influenza typische schwere Krankheitsgefühl.
Die Übertragung des Virus erfolgt im gesellschaftlichen Zusammenhang meist durch Tröpfcheninfektion auf die Schleimhaut des Oropharyngealtraktes oder (wahrscheinlich seltener) Kontaktinfektion; daher sind die propagierten Maßnahmen wie häufiges Händewaschen mit Seife (lipophile Virushülle!) und „social distancing“ (interessanterweise in anderen Ländern 6 feet oder 1,5 bis 2m!) bzw. Gesichtsmaske sehr sinnvoll.
Und in der Zahnarztpraxis?
Bis zum Vorliegen zuverlässiger Tests für SARS-CoV-2 zur Unterscheidung zwischen infizierten und nicht infizierten PatientInnen können wir nur helfen, die Ausbreitung von COVID-19 in Österreich zu verhindern oder einzudämmen. Siehe hierzu auch die Richtlinien der Zahnärztekammer vom 30.4.2020:
- Die Häufigkeit von Übertragungen reduzieren, Übertragungsketten unterbrechen
- besonders gefährdete Personen schützen bzw. keinen zusätzlichen, vermeidbaren Risiken aussetzen (erhöhtes Risiko liegt vor bei: Asthma/COPD, kardiovaskulären Erkrankungen, schlecht eingestelltem Diabetes, Krebs/Immunschwäche, Obesitas)
- Schutz der Gesundheit des Praxispersonals
- Ressourcen schonen (z.B. Hygienemasken, Desinfektionsmittel)
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Wir als ZahnärztInnen sind es zwar gewohnt, auf eine gute und durchgehende Hygienekette zu bauen; denn die Annahme muss immer von potentieller Infektiosität (Hep C, HIV, TBC, Herpes) der PatientInnen ausgehen. In Zeiten von COVID-19 sollten wir diese noch genauer einhalten, bzw. die Einhaltung regelmäßig überprüfen und evaluieren. Denn im (zahn)medizinischen Bereich sind zusätzlich alle Aerosol-produzierenden Vorgänge als Hochrisikosetting für mögliche Übertragung zu nennen.
Im Epizentrum des Ausbruchs in Wuhan infizierten sich (nach offiziellen Angaben) nur erstaunlich wenige ZahnärztInnen. Wenn man allerdings die Fotos der persönlichen Schutzausrüstung für Eingriffe mit Aerosolgenerierung sieht, wundert es kaum: N95/FFP2 Atemschutzmasken, Handschuhe, Vollgesichtsschilde, Augenschutzbrille mit Seitenschild, Schutzkleidung inklusive Kopfbedeckung und Überschuhe.
Zur Verhinderung der Übertragung wird nun auch vom RKI bei diesen Tätigkeiten die Kombination verschiedener Maßnahmen angeraten. Die Österreichische Zahnärztekammer lehnt sich mit den empfohlenen Schutzmaßnahmen daran an und hat ein Paket vorgestellt, das uns helfen soll, trotz schwieriger Zeiten unserem Beruf nachzugehen. Wir werden dazu in Bälde noch etwas schreiben.
Ausserdem: Ein Virus kennt keine Grenzen, es ist ein wahrlich „völkerverbindendes“ Phänomen. Und nun schließt sich auch der Kreis: In der angesehen Zeitschrift Lancet wird bereits vor einer zweiten COVID-Welle gewarnt. Aber damit kennen wir uns ja schon aus, es gibt doch auch die jährliche Influenzawelle!
Apropos: Wie halten Sie es eigentlich mit der Grippeimpfung?
Ihre Corinna Bruckmann
(Informationsstand 02.05.2020)